Computerspielsucht
Wie mein virtueller Avatar wichtiger wurde als ich selbst
In diesem Fallbeispiel stelle ich euch die Geschichte eines ehemalig Computerspielsüchtigen vor. Ihr könnt lesen, wie es zu der Abhängigkeit kam, sich alles verschlimmerte und er in die Klinik eingewiesen wurde. Jetzt kann er das wahre Leben wieder genießen.
Hi, ich bin Paul, bin 24 Jahre alt und war fünf Jahre computerspielsüchtig. In meinem gesamten Leben habe ich weit über 15.000 Spielstunden gesammelt. Das sind eineinhalb Jahre meines Lebens, wenn ich ununterbrochen gespielt hätte. Einerseits faszinierend und auf der anderen Seite erschreckend. Hier kannst du lesen, wie alles begann, meine Sucht sich entwickelte und ich wieder frei aus der Klinik kam.
Wie alles Begann
Bereits mit sieben Jahren faszinierten mich die Computerspiele, die mein Vater spielte. Ich sah ihm zu, wie er eine Strategie entwickelte und gewann oder verlor. Ich wollte auch. Ich wollte spielen, Strategien entwickeln und gewinnen. Mit neun Jahren spielte ich das erste Mal „Age of Empires“, die älteste Version. Der Zauberer war meine Lieblingsfigur, er hatte besondere Fähigkeiten wie den Wirbelsturm und das Feuer. Mächtige Werkzeuge. Dennoch besiegte ich ihn erst mit zwölf Jahren. Endlich! Wie viele Niederlagen musste ich dafür einstecken? Endlich habe ich ihn besiegt.
Der Weg in die Computerspielsucht
Ein Jahr später entwickelte sich mein kritisches Verhalten. Ob es schon eine Computerspielsucht war, oder nur exzessiver Konsum kann ich rückblickend nicht sagen. Auf jeden Fall ging ich immer öfter und immer länger allein an den PC, denn auch meine erste Freundin spielte. Zuerst EGO-Shooter, später „League of Legends“. Zunehmend begann das Gamen den Großteil meiner Tageszeit in Anspruch zu nehmen. Alles andere rückte in den Hintergrund – ich wollte besser werden, ich wollte gewinnen, ich wollte spielen oder war es doch schon eher ein Müssen?
Immer dann, wenn ich nichts zu tun hatte, ging ich an den Computer und spielte gefesselt. Schlaf rückte in den Hintergrund. In der Schule nahm ich am Unterricht kaum noch teil, da ich mir lieber Strategien ausdachte. Alles andere wurde uninteressant – besser: „scheißegal!“
Als alles noch schlimmer wurde
Als sich meine Eltern trennten, starb gefühlt mein reales Ich. Der absolute Tiefpunkt. Ich war angekommen. In der Virtualität. Jede Beziehung zur Realität war negativ. Die Glücksgefühle im Spiel waren mein Anker. Mein
Selbstwertgefühl verknüpfte sich mit dem virtuellen Rang meines Avatars, wodurch es mindestens genauso sprunghaft wechselte.
Erst in der zehnten Klasse änderte sich etwas in meinem Leben. Bis dahin war ich virtuell. Ab und an schlich sich ein Gedanke ein, der mich aufwecken hätte können, doch ich zockte weiter. Ich war computerspielsüchtig. Du glaubst, der Wechsel auf eine Fachoberschule hätte mich verändert?
Mein Lichtblick und der Absturtz
Weit gefehlt. Ich meine, dort zockten doch auch alle. Zumindest alle, mit denen ich mich umgab. Ich kannte halt nichts anderes. Ich kannte nur das Leben in der Online-Welt. Und doch! Da war der Lichtblick, der Blick in die Realität, die Leine zur Freiheit. Ich ergriff sie! Tanzte! Tanze, was das Zeug hielt. Jumpstyle! Endlich konnte ich mich ausdrücken, fand Jugendliche, die gebrochen waren wie ich und mit denen ich aufstehen konnte. Mit denen ich in der Realität war.
Doch als sich meine inzwischen neue Freundin von mir trennte, versackte ich vollständig in meinem Spielwahn. Wieder wurde der virtuelle Avatar wichtiger als mein eigenes Leben. Ich vernachlässigte mich, meinen Schlaf, meine Familie, einfach alles. Alles zugunsten eines Computerspiels.
Stationärer Aufenthalt in der Klinik
Ich muss dir etwas erzählen: An diesem Tiefpunkt ging nichts mehr. Mein echtes Leben stand still, sodass ich in die Klinik musste. Ich war süchtig – computerspielsüchtig. Vier Monate dauerte mein stationärer Aufenthalt, bis ich wieder ich war. Das Glücksgefühl, als ich die Einrichtung verließ, war immens. Ich konnte das genießen, was war, obwohl ich dies niemals geglaubt hatte.
Anmerkung
Vielen Dank lieber Paul für deinen Mut, deine Geschichte mir zu erzählen und öffentlich zu machen. Ich finde es beeindruckend, wie du deine Abhängigkeit überwunden hast. Du bist ein wahrer Kämpfer des echten Lebens und ich wünsche dir auf deinem Weg alles gut. Dieser Erfahrungsbericht entstand aus einem gemeinsamen Gespräch und meiner flinken Hand auf der Tastatur.
Autor: Florian Buschmann
Es gibt in Deutschland über 700.000 Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren, die eine ähnliche Leidenschaft für das Internet entdeckt haben. Informieren Sie sich bitte rechtzeitig, was Sie tun können, um langfristige Folgen zu vermeiden.
Vielen Dank an Sebastian, einen Lehrer, der mir diesen Text mit korrigierter Rechtschreibung und ohne Grammatikfehler verbessert zurückgeschickt hat.